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Was wird aus dir werden?


Weit vom Stamm: Wenn Kinder ganz anders als ihre Eltern sind, von Andrew Solomon. Frankfurt: Fischer Taschenbuch, 2013.

Weit vom Stamm: Wenn Kinder ganz anders als ihre Eltern sind, von Andrew Solomon. Frankfurt: Fischer Taschenbuch, 2013.

von Dorion Weickmann

Was passiert, wenn das Ergebnis eine Auffälligkeit zeigt, wenn eine mehr oder minder gravierende Störung oder gar ein Syndrom auftaucht, das die Ärzte als “unvereinbar mit dem Leben” bezeichnen? Immer mehr Frauen teilen die Erfahrung der Pränataldiagnostik, der genetischen Screenings, Ultraschall- und Fruchtwasseruntersuchungen, die abklären sollen, ob das Kind, das sie in sich tragen, gesund ist: ohne Handicap also, ohne manifeste körperliche Beeinträchtigung. Als Andrew Solomons Mutter 1963 schwanger war, befand sich die Medizin noch im Stand der Unschuld. Der schwule Sohn ist sich sicher: “Falls wir einen pränatalen Marker für Homosexualität finden, werden viele Paare ihre homosexuellen Kinder abtreiben. Ich wünsche mir nicht, dass irgendjemand schwul sein soll, aber bei der Vorstellung, dass niemand mehr schwul ist, vermisse ich mich jetzt schon.”

Das Buch, das Solomon geschrieben hat, ist kein Plädoyer gegen vorgeburtliche Diagnostik. Wohl aber eins gegen Diskriminierung und Konformitätsdruck. Ohne zu beschönigen und die beträchtlichen Probleme vieler Familien mit Kindern, die den Standard sprengen, kleinzureden, verteidigt es die Vielfalt und springt denen zur Seite, die ihre Nachkommen als Fremdlinge erleben – als “weit vom Stamm” gefallen, wie der Titel sagt. Es sind Kinder, die aus der “vertikalen Identität” ihrer Vorfahren ausscheren und in eine “horizontale Identität” eintauchen. In eine Seinsweise, die sie mit anderen Betroffenen oder Gleichgesinnten verbindet. Als Homosexueller und phasenweise von schweren Depressionen Geplagter ist der Autor selbst so ein Abweichler – und schreibend der eigenen Vergangenheit auf der Spur.

Denn Solomons Coming-out geriet zur Zerreißprobe, das Gefühl mangelnden elterlichen Beistands hielt sich hartnäckig. Über zehn Jahre hinweg hat der Literaturwissenschaftler und Psychologe dreihundert amerikanische Familien interviewt, um am Ende festzustellen: “Ich begann diese Nachforschungen gekränkt, ich beendete sie nachsichtig.” Denn was die Mütter und Väter anderer Kinder und, soweit möglich, die Kinder selbst ihm erzählten, hat kathartische Wirkung – auch für den, der den Band in die Hand nimmt. Nach rund tausend Seiten Lektüre ist die Welt, die wir zu kennen glauben, aus den Fugen, sind unsere Vorurteile über das Dasein mit einem behinderten, kriminellen, genialischen, schizophrenen oder autistischen Kind gründlich zerlegt. Elaine Grigoli, Mutter einer Tochter mit Downsyndrom und lange in der Beratung anderer Betroffener tätig, bringt es auf den Punkt: “Vielleicht verwinden die Eltern nie, was ihnen zugestoßen ist, akzeptieren jedoch ihr Kind. Das sind zwei unterschiedliche Dinge, der elterliche Verlust und die reale Person, die sie letzten Endes fast immer lieben.”

(To read the full review, please visit Zeit Online.)